
Das Delta meiner Flüsse
Ein Song, der klingt wie am Fenster herunter rinnender Regen. Nicht traurig, vielleicht etwas melancholisch. Eher klingt er nach einem Regentag im Frühling. Leicht. Freundlich. Fließend. Und er trägt meine Gedanken weiter. In eine vor mir liegende Zeit, die ich jetzt bestimme, deren Weg ich jetzt lege mit meinen Entscheidungen. Diese Töne des Klaviers rinnen wie freundliche Tropfen, wie klares Wasser reinigend durch meine Gedanken und mein Herz; hinterlassen kleine Spuren am Fenster meiner Seele, wie kleine Flüsse. Jeder ein Flussbett aus reinigender Energie. Ein Delta aus Bächen und Flüssen, das zum offenen Meer hinzeigt und fließt. – Verzweigt, ein Netz, jeder einzeln und doch alle zusammen eine seltsame Art von landschaftlicher Einheit.
Auf der Landkarte meines Lebens wird man eines Tages von ganz weit oben diese kleinen Rinnsale meiner Gedanken und Entscheidungen sehen können. Als Delta, als größeres Bild, das ein Muster ergibt, das ganz eindeutig in eine Richtung zeigt. Eines Tages und von weit entfernt wird all das erkennbar sein, vollkommen logisch, als hätte es nie anders sein können. Dann werde ich an diesen Augenblick zurückdenken. Als ich hier saß an meinem Schreibtisch. An einen Frühlingstag draußen, als die Welt sich nach dem Winter neu zu ordnen begann, einem neuen Jahr entgegenstreckte, so wie ich nach einem neuen Abschnitt in meinem Leben.
Und ich werde lächeln über all die kleinen Fehler und schönen Dinge, die nach diesem Tag geschehen sind, all die Umwege und direkten Straßen, die ich ging. Milde lachen über all die Zweifel und Fragen, die ich in Kopf und Herz hin und her bewegt habe. Mich erinnern der Zeichen, die ich damals nicht als Zeichen deuten konnte oder deren ich mir unsicher war. Denn sie waren doch so offensichtlich, werde ich später sagen. Und laut lachen werde ich über all das, was mir Angst machte und mich hemmte; bei einigen Dingen fragen »Wie konntest du nur?« und bei anderen »Wie konntest du nur so lange warten und so viel zweifeln?« und mich erinnern, dass es gar nicht anders ging, weil das genau der Weg war, und eben nicht der daneben oder der, den ich an der Kreuzung nicht weiter ging, sondern stattdessen abbog.
Eines Tages werde ich wissen, warum all diese vielen Gedanken nötig waren, all die Unsicherheiten, Ängste: Sie führten mich eben dahin, wo ich dann sein werde. An den Ort, von dem dann die nächsten Schritte gegangen werden. An den Ort, von dem ich heute noch nicht weiß, wo er ist und wann, den ich wähle und der von hier aus noch ganz im Dunkeln liegt, noch nicht zu sehen ist; über dessen Existenz ich jetzt nachdenke. An den Ort, den die reinigende Musik mit ihrem Klang nach klarem Wasser mir etwas erhellen wird. Ein Stückchen näher bin ich.
»Bin ich?«, frage ich mich. – Ja, denn ich bin losgegangen. Und wie die alten Weisen sagen
»auch eine Reise mit tausend Meilen, beginnt mit dem ersten Schritt«
und – ist der allererste Schritt nicht vielleicht sogar der wichtigste?
Ich bin gespannt, wie das Delta später aussehen wird. Von oben, von Weitem, aus der Entfernung der Zeit und des Lebens. Mein Delta zum Meer.
Song: „Moonlit Shore“ von Brian Crain
